Wir haben gewonnen!
Jessica Severiano aus der 10 b hat mit ihrer Kurzgeschichte „Unzertrennlich“ den ersten Preis bei diesem Workshop zur Sturmflutgeschichte Wilhelmsburg gewonnen. Organisiert von der Literaturagentur „Fantastische Teens“ und der Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg tauchten 20 Jugendliche, darunter vier aus der „Boni“, in die Flutgeschichten aus dem Jahr 1962 ein. Gebannt lauschten sie zuerst den Erzählungen der anwesenden Zeitzeugen aus dem Stadtteil und schrieben dann unter Anleitung der Schrifstellerprofis Ulla Mothes und MichelAbdollahi eigene Geschichten über Menschlichkeit, Mut, Ängste und Versagen im Angesicht einer Naturkatasrophe.
Zwei dieser Geschichten von Jeanette Zok und Jessica Severiano aus der 10b schafften es in das Buch zum Workshop „Als der Deich brach“ und Jessica las dann ihre Geschichte beim Senatsempfang zum Sturmflutjubiläum im Rathaus am 16.2.2012 vor großem Publikum.
Geschichten
Unzertrennlich (Jessica Severiano)
Seit Tagen stürmt es. Der Wind fegt um die Ecken und rüttelt an den Fensterläden
wie ein ungebetener Gast.
Ich sitze in meinem Zimmer. Es ist warm und trocken. Ich mache Hausaufgaben,
was mir eigentlich gar nicht ähnlich sieht.
Ich bin eine schlechte Schülerin, normalerweise.
Mir ist langweilig und meine Gedanken schweifen ab. Was Annabell, meine beste Freundin wohl gerade macht?
Ich stehe auf und versuche einen Blick in ihr Fenster zu erhaschen. Sie wohnt
im Haus gegenüber. Wir sehen uns täglich, aber heute Mittag bleibt ihr Fenster
dunkel, nichts bewegt sich.
Ich schaue hinunter auf die Straße. Nirgendwo ist ein Auto zu sehen, nur Matsch und ein paar wankende Gestalten, die kaum vorwärtskommen.
Auch auf der Straße kämpft etwas mit dem Wind. Wie in Zeitlupe kommt es näher. Ein umgeklappter Schirm auf einem Fahrrad, das beinahe still steht, und doch strampeln unter dem Schirm ein paar Beine verzweifelt in die Pedale.
Kenne ich diese Beine etwa? Jetzt sehe ich es deutlich. Die blauen Stiefel mit dem Pelzbesatz gehören Annabell. Ich reiße das Fenster auf und will ihren Namen rufen, aber kein Laut ist zu hören, als hätte ich ihn verschluckt: den Schrei. Nur der Sturm braust, und mit aller Kraft presse ich das Fenster wieder zu und gehe früh ins Bett, damit ich morgen den Bus nicht verpasse.
Plötzlich, mir kommt es vor, als sei ich gerade erst eingeschlafen, reißt meine Mutter mich aus dem Tiefschlaf. Ich schaue auf die Uhr, es ist vier Uhr morgens!
"Lauf, schnell, das Wasser steigt, der Deich muss gebrochen sein. Los!«
Ich denke an meine Freundin Annabell. Ich hoffe, sie wurde auch geweckt und kann sich retten. Die Familie wohnt im Erdgeschoss.
Meine Mutter und mein Bruder rufen schon von oben. Da sehe ich meinen Vater - und was macht er? Er rettet den Fernseher.
Meine Mutter ruft von oben: »Was machst du da? Rette dich, nicht den dummen Fernseher!«
Mein Vater hört nicht auf sie.
Mein Bruder weint. Um uns herum stehen die Nachbarn. Wir stehen unterm Dach am Treppengeländer und starren immer wieder auf das Wasser.
Ich denke an meine Freundin Annabell. Ich hoffe, es geht ihr gut. Mama betet.
Als es dämmert, sehe ich, wie gegenüber das Dachfenster geöffnet wird. Eine Mädchenhand hält einen Stiefel aus dem Fenster und kippt Wasser aus, das hineingelaufen ist. Der Stiefel ist blau mit Pelzbesatz.
Traurige Rettung (Jeanette Zok)
Ein zweistöckiges Haus, blau gestrichen, mit einem großen Garten. Dahinter eine Scheune mit Kühen. Aus dem Haus kommt lautes Gelächter. Es wird gerade Geburtstag gefeiert. Es ist der Geburtstag von Johann der heute vierunddreißig Jahre alt wird. Viele Gäste sind gekommen. Seine Eltern Vivien und Lothar, die Eltern seiner im fünften Monat schwangeren Frau und einige Freunde der Familie. Es ist eine schöne Feier. Viele unterhalten sich, einige tanzen sogar. Einzig und allein eines fehlt. Der Geburtstagskuchen, den Johanns Frau Tanja heute Morgen für ihn gebacken hat. Während Johann sich mit seinem Vater über das gestrige Fußballspiel unterhält, schleicht Tanja sich kurzerhand aus dem Wohnzimmer, welches sich im ersten Stock des Hauses befindet, und geht hinunter in den Keller, wo die Torte kühl steht. Doch schon bevor sie unten ankommt, hat sie den Eindruck, dass etwas nicht stimmt. Irgendwie ist ihr kalt. Erst als sie nach unten blickt, merkt sie, dass der ganze Boden überschwemmt ist. Sie hat sich so auf das überraschte Gesicht ihres Mannes, wenn er den Kuchen zu Gesicht bekommt, gefreut, dass ihr gar nicht aufgefallen ist, dass sie bereits bis zu den Knöcheln im Wasser steht. Zuerst vermutet sie mal wieder einen Wasserschaden, da das Haus sehr alt ist und so was öfter vorkommt. Doch als sie aus dem Fenster sieht, stellt sie entsetzt fest, dass auch der Garten völlig überschwemmt ist. Ohne nachzudenken geht sie nach oben. Den Kuchen hat sie schon vollkommen vergessen.
Johann unterhält sich immer noch mit seinem Vater. Das Thema haben die beiden jedoch längst gewechselt. Dass ein paar Meter unter ihnen alles unter Wasser steht, ahnen sie nicht.
Ohne jeglichen Ausdruck im Gesicht kommt Tanja auf ihn zu.
„Wo warst du? Ich hab dich schon vermisst“ fragt Johann sie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
„Kann ich kurz mit dir reden?“, antwortet sie.
„Würdest du uns kurz entschuldigen?“, bittet Johann seinen Vater. Dieser nickt und gesellt sich einfach zu den anderen.
„Also“, fängt Tanja an. „Ich war kurz unten in der Küche, und der ganze Boden ist überschwemmt. Der Garten auch.“
Johann ist verwirrt. Er liebt es, mit seiner Familie zu feiern, und ist noch ganz in glücklicher Stimmung.
„Und wie hoch steht das Wasser schon?“
„Bis zu den Knöcheln. Ich glaube, eine Flut kommt auf uns zu.“
Ohne weitere Fragen zu stellen geht Johann zum Fenster und blickt hinunter auf den vom Wasser völlig überfluteten Garten.
Johanns Vater Lothar bemerkt den erschrockenen Blick seines Sohnes. Er weiß sofort, dass etwas nicht stimmen kann. Mit leichten Schritten stellt er sich neben ihn und schaut ebenfalls aus dem Fenster.
„Das ist aber mal viel Wasser, was sich da angesammelt hat. Findest du nicht auch?“, fragt er Johann.
„Ich habe das Gefühl wir sollten uns lieber in Sicherheit bringen“, erwidert Johann mit leiser Stimme.
„Was meinst du damit? Es ist doch alles in Ordnung. Was soll denn schon groß passieren?“, reagiert Lothar abwehrend.
„Du willst die ganze Party auflösen, nur weil du wie immer Angst hast? Vor was denn? Einer Flut? Ich sage es dir, uns wird nichts passieren!“
Doch Johann bleibt stur. „Ich werde jetzt allen Bescheid sagen, und dann entscheiden wir, was zu tun ist.“
Als alle Augen auf ihn gerichtet sind, fährt er fort: „Hört mir bitte alle ganz genau zu. Meine Frau und ich glauben, dass eine Flut auf uns zukommt. Der ganze Garten ist bereits überschwemmt.
Ich finde, wir sollten die Feier ein andermal fortsetzen und uns lieber alle ... .“
Doch noch bevor Johann seinen Satz zu Ende bringen kann, fällt sein Vater ihm ins Wort.
„So ein Schwachsinn! Wir sind hier alle sicher und sollten einfach weiterfeiern. Uns wird schon nichts passieren. Mein Sohn neigt gerne zur Übertreibung. Ich würde vorschlagen, ich hole jetzt den Kuchen und wir machen weiter wie eben.
„Also, ich gehe!“, ruft Melanie, die beste Freundin von Tanja. „Und ich würde euch allen raten, das Gleiche zu tun. Wir sollten nichts aufs Spiel setzen und uns in Sicherheit bringen.“ Melanie holt ihren roten Mantel, umarmt Tanja zum Abschied und geht. Kurz sind noch die Schritte von Melanie zu hören, die die Treppe hinunter geht, dann herrscht Stille im Zimmer.
Jeder ist verunsichert, und keiner traut sich, etwas zu sagen. Niemand will an Johanns Geburtstag Streit.
Bis schließlich einige anfangen, ihre Jacken und Mäntel zu holen, während die anderen weiterhin auf dem Sofa sitzen oder mit ihrem Glas Sekt in der Hand unentschlossen vor herumstehen.
Auch Johann und Tanja haben beschlossen zu gehen. Doch vorher wollen sie noch einmal versuchen, seinen Vater zu überreden mitzukommen. Dieser beharrt immer noch auf seiner Meinung, es würde nichts passieren. Einzig und allein seine Ehefrau und Peter, ein Freund, wollen bei ihm bleiben.
„Lothar ich bitte dich!“, fängt Tanja an. „Kommt doch mit uns. Falls wirklich eine Flut kommt, seid ihr, du, Vivien und Peter dem sicheren Tod ausgeliefert! Unser Haus liegt in einer Senke!“
Doch Lothar beachtet sie gar nicht mehr. Er sitzt nur da in seinem Sessel, mit den Händen auf den Armlehnen und einem kalten, ausdruckslosen Blick im Gesicht.
„Komm Tanja, wir müssen los“, unterbricht Johann sie, während sie weiterhin versucht, Lothar zu überreden. Doch auch sie merkt, dass es zwecklos ist und holt ihre Jacke.
Als Johann und Tanja ins Erdgeschoss kommen, steht ihnen das Wasser bereits bis über die Knie.
Einzelne Schuhe schwimmen ihnen entgegen.
„Ich nehme dich auf die Schulter!“, sagt Johann zu seiner Frau. Da Tanja eine zierliche Frau ist, wird es Johann trotz Tanjas Schwangerschaft keine große Mühe kosten.
Tanja stellt sich auf die Treppenstufe, während Johann im Wasser steht. Dann klettert sie auf seine Schulter. Johann braucht Kraft, um die Tür des Hauses gegen das Wasser aufzudrücken. Und dann beginnt er zu gehen. Mit seiner Frau auf den Schultern und der Angst, das Wasser würde noch höher steigen. Die beiden sind auf dem Weg zur Kirche, die auf einem kleinen Hügel steht. Dort würden sie sicher sein, so hoffen sie. Auf dem Weg dorthin begegnen sie einigen Nachbarn. Sie sehen verstört aus. Mit hochgekrempelten Hosen versuchen sie vorwärtszukommen. Und auch Johanns Kräfte schwinden langsam. Die Wassermassen drücken schwer gegen seine Schenkel. Doch er denkt nicht daran, stehen zu bleiben.
Der Gedanke an seine Frau und sein Baby in ihrem Leib treibt ihn voran.
Und ohne, es recht zu merken ist er am Hügel angekommen. Der Gegendruck beim Gehen ist kaum noch zu spüren. Und dann kann auch seine Frau mit trockenem Boden unter den Füßen die letzten Schritte bis zur Kirche gehen. In der Kirche haben sich bereits viele Menschen versammelt. Frauen sitzen auf den Bänken mit ihren Kindern auf dem Schoß. Väter unterhalten sich, und einige sitzen einfach da und hoffen auf Rettung.
Erschöpft setzen sich Johann und seine Frau auf eine freie Bank.
„Das Wasser wird weiter steigen“, sagt Johann zu seiner Frau. „Ich weiß“, erwidert sie nur.
Johann muss an seine Eltern denken, die im Haus geblieben sind. Und auf einmal steigen Tränen in seine Augen. Lange genug hat er sich zusammengerissen, und nun lässt er seinen Gefühlen freien Lauf.
Er weiß, jetzt sind sie sicher. Und ab jetzt heißt es warten. Warten auf Hilfe. Warten auf Rettung.
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Rede des 1. Bürgermeisters Olaf Scholz mit Erwähnung von Jessica Severiano